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Feuilleton online Kunstbibliothek, Museen am Kulturforum, Sonderausstellungshallen
29.7.2012 | Anne Schäfer-Junker

Von mehr als einer Welt. Die Künste der Aufklärung

Eine Ausstellung der Kunstbibliothek mit Unterstützung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz


Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657-1757). Entretiens sur la plurailté des mondes, Den Haag 1733



Johann Franz Griendel (1631-1687), Micrographie Nova
Staatsbibliothek zu Berlin, Abt. Historische Drucke



B. D'Lander, Rien N'est Beau Que Le Vrai (Nichts ist schöner als die Wahrheit), 1786, Öl auf Leinw., Kunstbibliothek, Inv. Lipp. 351



Friedrich Heinrich Wilhelm Martini
Das zwölfbändige Neue systematische Conchylien-Cabinet (Auszug) fasziniert durch seine zahlreichen kolorierten Bilder, die zur Bestimmung der Exemplare nach Gattungen und Arten und zur Dokumentation außergewöhnlicher Objekte bestimmt waren.



In der Goya-Hommage des britisch-nigerianischen Künstlers Yinka Shonibare hat sich der "Schlaf der Vernunft" wie eine Infektion über den ganzen Globus ausgebreitet.

Fotos: Katalog der Ausstellung

Noch bis Sonntag, den 5. August 2012 ist die Ausstellung geöffnet!

Diese Ausstellung ist von einer solchen Bild-"Gewalt" und gestalterischer Schönheit, so dass hier nur einige wenige wegweisende Texte aus der Ausstellung in kleinen Auszügen veröffentlicht werden sollen. Diese Texte stammen von den Autoren der Ausstellung - Michael Lailach, Jörg Völlnagel und Moritz Wullen. (s. unten Katalog)

Von den Bewohnern der Gestirne.
„Von den Bewohnern der Gestirne“ nannte Immanuel Kant einen Abschnitt seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels , in dem er die Existenz von Läusen auf den Köpfen der Menschen mit derjenigen von menschlichen Wesen auf unterschiedlichen Planeten verglich. Mit der technischen Ertüchtigung von Fernrohr und Mikroskop wurde die Vorstellung einer visuellen Reise durch alle Dimensionen – auf andere Planeten und in fremde Universen, aber auch in mikrokosmische Welten, die dem Auge bis dahin verborgen geblieben waren – zu einer fixen Idee der Kunst des 18. Jahrhunderts. All die Wesen und Existenzformen, denen wir auf diesen Reisen begegnen könnten, paradieren in dieser Sektion am Betrachter vorbei. Sie sind, der Zeit entsprechend, noch nicht systematisiert und naturwissenschaftlich nach ihren Arten klassifiziert worden. Der Mensch hatte sich endgültig aus dem Mittelpunkt der Schöpfung herauskatapultiert und war zu einem von zahlreichen Bewohnern der Gestirne, zu einem Wesen in mehr als einer Welt geworden.



Zergliederungskunst
Die Aufklärung praktizierte eine „Zergliederungskunst“, die den Körper anatomisch zerlegte. Im Anatomischen Theater geriet er zum Objekt einer schonungslosen Schaulust, die Neugierde und Voyeurismus in sich vereinte. Das Geflecht der Akteure umspannte alle Wissensbereiche: Neben Medizinern, Chirurgen und Anatomen hatten Philosophen, Künstler und Schriftsteller an der Modellierung aufgeklärter Körperwelten teil. Im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft wurde der gnadenlose Blick in das exponierte Innere zum Sinnbild des 18. Jahrhunderts. Die Bildstrategien der Aufklärung drangen in den Menschen ein und förderten neue Dimensionen des Körperlichen zutage: Das Panorama reicht vom sichtbaren Körper bis zu imaginierten Körperbildern, vom Inneren des Körpers bis zu Formen körperbezogener Intimität, vom Studium der Anatomie bis zur Erforschung des Charakters, der Seele und der Empfindsamkeit. Die Bildwanderung endet an jenem Punkt, von dem aus der Mensch als Vernunft-und Gefühlswesen in seine Einzelteile zerfällt, verschwindet und neu zusammengesetzt werden muss.

 

Verbesserung der Sitten
Im Zeitalter des Vernunftkultes und der damit verbundenen Krise der christlichen Ikonographie avancierte die bildende Kunst zu einer beinahe alle Lebensbereiche durchdringenden moralischen Instanz. Begünstigt durch die Entwicklung neuer Drucktechniken, die höhere Auflagen und damit eine größere Verbreitung ermöglichten, wurde die Kunst zu einem vielseitig einsetzbaren Medium der Aufklärung, das der Vermittlung insbesondere bürgerlicher Tugenden und Lebensideale sowie der Gesellschaftskritik diente. So gehört etwa die „Affäre Calas“ zu jenen frühen Beispielen von Justizirrtümern, bei denen Gelehrte, Literaten und Künstler durch ihre Einmischung maßgeblich zur Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit sowie zur Etablierung der Kunst als integralen Bestandteil einer modernen und zugleich moralisch Stellung beziehenden Berichterstattung beigetragen haben. Titelblätter von wissenschaftlichen Rezensions- und Literaturzeitschriften des 18. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum bilden die Folie dieser Sektion, auf der sich der Bilderkreis der Moral entfaltet.

 

Pygmalion
Pygmalion steht für den Traum der Künstler, nicht nur Kunst, sondern wirkliches Leben zu schaffen. Der antike Mythos vom Künstler Pygmalion, der eine lebende Skulptur erschuf, war für das 18. Jahrhundert kein Märchen, sondern kam einem Blick in die Zukunft gleich. Die bildende Kunst wähnte sich dem Geheimnis des Lebens dicht auf den Fersen. Es war die Zeit des Geniekultes, der Automaten und Sprechmaschinen, der Entdekkung der Elektrizität und der pseudowissenschaftlichen Zeugungstheorien. Die spektakulären Versuche des italienischen Mediziners Luigi Galvani mit sezierten Froschgliedmaßen und die Experimente seines Neffen Giovanni Aldini mit Leichen fügen sich in das gleiche Spektrum ein wie die „Kallipädie“, eine Wissenschaft, die sich mit der ästhetischen Optimierung von Embryonen befasste. Die Begeisterung des 18. Jahrhunderts für Pygmalion wurde von der Überzeugung getragen, Technik und Wissenschaft seien fortgeschritten genug, um über kurz oder lang das Pygmalion-Experiment auch ohne göttliche Hilfe zu wiederholen.

 

Freie Schönheit
Im 18. Jahrhundert finden sich überraschend viele Bilder, die nahezu gegenstandslos sind oder zwischen Gegenstand und Abstraktion changieren. Einige Künstler richteten den Blick bewusst auf abstrakte Strukturen von Oberflächen und Materialien, auf die Vielfalt der Naturformen und ihre pittoreske Erscheinung. Andere experimentierten mit abstrakten Formen, um daraus Landschaftsdarstellungen aufzubauen. Kronzeuge dieser Entwicklung war Immanuel Kant. In seiner Critik der Urtheilskraft erkannte der Philosoph in diesen Formen eine „freie Schönheit“, die nichts vorstellt oder abbildet, sodass die Freiheit der Einbildungskraft nicht eingeschränkt wird. Kant dachte dabei sowohl an Blumen, Ornamente und Papiertapeten als auch an „eine Menge von Schalthieren des Meeres“. Zeugnisse für diese Faszination finden sich in sehr unterschiedlichen Kontexten wie der Zoologie, der Mineralogie und der Mikroskopie, in Kunsttheorien, Schreibmeisterbüchern, Buntpapieren und in den Landschaftszeichnungen dieser Zeit.

 

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer , das Blatt 43 aus der Serie Los Caprichos von Francisco de Goya, lenkt den Blick auf die dunklen Phantasmen und Visionen des 18. Jahrhunderts. Im „Paradies der Phantasten“ spielte die Kunst eine durchaus zwielichtige Rolle. Zum einen versorgten Künstler das aufgeklärte Publikum mit Darstellungen des Medienbetriebs und mit karikaturistischen Seitenhieben auf die Sensationslust, zum anderen entdeckten sie in dem wachsenden Bedürfnis nach übernatürlichen Mysterien einen vielversprechenden Zukunftsmarkt. Selbst die Bilderwelten Goyas appellierten keineswegs nur an den kritischen Verstand, sondern auch an die morbide Freude über Monster, Hexen, Gespenster und „Vampyre“. Neue Bildideen, künstlerische und technische Tricks machten das Phantastische immer realistischer – und damit noch phantastischer. Die Bildkultur präsentiert sich im 18. Jahrhundert in einer Doppelrolle als Aufklärungs- und Illusionsmaschine. Es ist ein Spiel, das sie noch heute mit Erfolg betreibt.

 

Der letzte Mensch
„Der letzte Mensch“ ist das Schlusskapitel der Ausstellung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stand der aufgeklärte Mensch an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Industrialisierung und Rationalisierung verwandelten das alte Europa in eine fremde Welt. Die Natur, philosophischer Schlüsselbegriff und Sinnbild der Epoche für ein menschengemäßes, befreites Dasein, wurde nun auch in ihrer unsteten, bedrohlichen Ausprägung wahrgenommen. Die apokalyptische Erfahrung des Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755 versetzte ganz Europa in Angst und der Blick auf die Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum wurde zu einer bestimmenden Größe: Der Mensch stellte sich die Zukunft der Zivilisation in Ruinen vor. Wie ein Menetekel erschien der in den Wirren der Französischen Revolution geschriebene Roman Der letzte Mensch . Er lieferte das Drehbuch für die Endzeitvisionen bis in unsere Gegenwart, aber als dunkle Kehrseite der Utopie auch ein Motiv künstlerischer Aneignung: die Szenerie für den letzten Überlebenden der Gattung Mensch.

Der Katalog zur Ausstellung (fast vergriffen!) erschien im Michael Imhof Verlag: Von mehr als einer Welt. Die Künste der Aufklärung. Kunstbibliothek 2012, 21 x 28 cm, 356 Seiten, ca. 450 Abbildungen, Hardcover, ca. 39,95 €. Museumsshop im Internet

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